Der bayerische Ravensburger ist Kretschmanns Minister für Soziales und Integration
Es gibt jene, für die war klar, dass dieser Mann einmal Minister werden würde. Sozialminister in der grün-schwarzen Landesregierung in Stuttgart. Wie ein Naturgesetz, eine vorhersagbare chemische Reaktion. Zu diesen Menschen gehört der Minister selbst: Manfred Lucha, 55. Der frühere Chemielehrer Winfried Kretschmann, heute Ministerpräsident, sah das wohl auch so und machte den ehemaligen Chemiewerker und Grünen der ersten Stunde zum Kabinettsmitglied. All jene, die überrascht waren, als am 12. Mai 2016 dieser Lucha auf der Regierungsbank des Stuttgarter Landtags Platz nahm, kennen vielleicht nur den einen Lucha, den lauten, jovialen und manchmal hemdsärmeligen. Sie duzen sich mit ihm seit gefühlten Ewigkeiten, haben mit ihm in der Ravensburger Ratsstube oder in der Räuberhöhle diskutiert und gezecht. Aber es scheint zwei Luchas zu geben – mindestens.
Der Mann mit der irgendwann einmal gebrochenen und nicht wieder gerade angewachsenen Nase kultiviert nicht den Zweifel an der Welt oder gar an sich selbst. Wenn er zögert, dann so, dass es niemand merkt. Obwohl, nach fast einem halben Jahr im würdigen Amt, beobachtet der erfahrene Sozialarbeiter manchmal etwas an sich, das ihm früher fremd war – Vorsicht. Denn solch ein Amt unter dem beliebtesten Politiker Deutschlands, den sich manche gar als Bundespräsidenten vorstellen können, will verteidigt sein. Jeder Tag ist einer, an dem man sich des Amtes würdig und gewachsen zeigen muss. Das merkt Lucha, aber die Mühe, die er sich dabei gibt, scheint noch spielerisch.
Vorteil bayerisches Idiom
Irgendwann vor 30 Jahren ist der Oberbayer einmal wegen der Liebe nach Ravensburg gezogen. Seine oberschwäbische Assimilation begann in der links-alternativen Kneipe „Räuberhöhle“. Das Idiom ist ihm geblieben, diese „dialektische Sprachmächtigkeit“, wie er das unbescheiden nennt, wenn er auf Bayerisch lospoltert. Lucha sagt bis heute, auch als Minister, Dinge, die andere irritieren könnten, würde er sie auf Hochdeutsch sagen. Er erde sich selber, er sei nicht in Gefahr abzuheben ob des Amtes, auch nicht ob eines Artikels über sich in der „Süddeutschen Zeitung“, den er vermutlich noch seinen Enkeln zeigen wird. Er sei ein hervorragender Vorleser, habe eine schöne Stimme, sei darstellungsstark. Als er im Spätsommer einmal in eine Ravensburger Gartenwirtschaft kam und einige ältere Biertrinker riefen, er habe sich lange nicht blicken lassen, rief er zurück, „na wisst’s, einer muss ja regieren“. Dass er mitregiere, hat er schon gesagt, als er nur einfacher Landtagsabgeordneter war.
Selbstverständlich scheint es nicht, dass einer, der grüne Kärrnerarbeit in Ravensburg, im Kreistag und im Landtag gemacht und sich mit unbequemen Themen wie Behindertenintegration profiliert hat, nicht nur einen Wahlkreis gewinnt und den CDU-Mann hinter sich lässt, sondern auch in jenes weiße Büro mit den Designermöbeln im grauen Ministeriumsgebäude in der Stuttgarter Schellingstraße einzieht. Im Korridor hängen Bilder früherer Minister.
Lucha hat an seinen Wänden Acrylmalereien von psychisch Kranken aufgehängt. Einer seiner früheren Patienten hat aus Alabaster einen Lucha-Kopf gemeißelt, „sieht man doch an der kaputten Nase“, sagt er und stellt die schwere Miniatur zurück auf die Anrichte. Frau Clauss, die den Kaffee bringt, ist seit 35 Jahren Sekretärin hier. Neun von Luchas Vorgängern, die draußen auf dem Flur hängen, hat sie gedient. „Dieser ist der Umtriebigste“, sagt sie und wirkt amüsiert. Eine von Luchas Mitarbeiterinnen sagt, man müsse einige Übersetzungsarbeit ins Ministerium hinein leisten. Der Minister und seine Art sind eben anders als die seiner Vorgänger.
Wenn Lucha erzählt, von den Abteilungen, in denen auch solche sitzen, die ihm oder seiner Partei nicht wohlgesonnen sind, macht er nicht den Eindruck, als schrecke ihn die Größe der Aufgabe, das Verwalten eines millionenschweren Haushalts. Eher wirkt er wie jemand, der überzeugt ist, dass ihm diese Aufgabe zusteht. An die Macht wollte er, um Sozialpolitik zu gestalten, Behinderte zu integrieren, die Gesellschaft dahin zu bringen, dass Minderheiten – ob Schwarze, Schwule oder Schwerbehinderte – ganz natürlich anerkannt werden.
Berührende Antrittsrede
Seine Antrittsrede als Minister im Landtag konnte, wenn man genau zuhörte, sehr berührend sein und wurde Zehntausende Male im Internet geklickt: Der Vater zweier schwarzer Kinder, Sozialarbeiter und Kümmerer, sprach vom Ende der Ausgrenzung und davon, dass die Privilegiertheit, in der viele leben, uns geschenkt wurde. Das sind die Momente, in denen die Demut in Lucha stärker scheint als die Lust am lauten Selbstbewusstsein.
Heute ist Lucha 55. Die beiden adoptierten Kinder, die als Babies aus Haiti kamen, stehen auf eigenen Beinen. Und wenn man sieht, wie Lucha im Garten seines Ravensburger Bürgerhauses Feste feiert, dann hat es das Leben offenbar gut mit ihm gemeint. Jetzt will er noch einmal zehn Jahre lang vorne dabei sein, also zwei Legislaturperioden.
Audi A 8 statt Fahrrad
Der passionierte Radfahrer lässt sich heute im Audi A 8 „mit verlängertem Radstand für die Beinfreiheit“ sagt Herr Sander, der Chauffeur, – über die Autobahnen des Südwestens steuern. Behindertenrepräsentanten, Elternvertreter, Flüchtlingsbetreuer, Sozialarbeiter, alle wollen jetzt, wo es um den Zuschnitt des neuen Haushalts geht, vorstellig werden. Er hält Reden, sitzt auf Podien, durchschneidet Eröffnungsbänder, enthüllt eine Sonderbriefmarke. Gelegentlich muss ihm dann sein Büroleiter, ein Sozialdemokrat, die Krawatte binden. Im Wagen mit dem verlängerten Radstand arbeitet er Akten ab. Herr Sander hat eine kleine Flasche San Pellegrino in die Ablage gestellt. Muss der Minister Papiere unterschreiben, gibt er Bescheid, damit der Chauffeur Buckel und Bodenwellen vermeidet und die Unterschrift nicht verwackelt.
Im Kabinett in der Villa Reitzenstein, hoch über dem Stuttgarter Kessel, sitzt Lucha zwischen zwei ehemaligen Gegnern, Guido Wolf und Landwirtschaftsminister Peter Hauk. So wenig die beiden Christdemokraten einander mögen, so gut scheint der Grüne mit denen von der CDU klarzukommen. Man duzt sich. Auch mit dem graumelierten und gebräunten Innenminister Thomas Strobl, den Angela Merkel nach Stuttgart geschickt hat, um die desolate Personalsituation bei den baden-württembergischen Christdemokraten etwas abzufedern.
Wie der Bayer Lucha in Baden-Württembergs Landeshauptstadt da auf den lichten Fluren des Landtags mit Freund und Gegner redet, verhandelt, charmiert und delegiert, fragt man sich, ob er das schon länger macht als seit Mai. Die Bundeskanzlerin, die den grünen Ministerpräsidenten mehr zu schätzen scheint als manchen ihrer Parteikollegen, hat Lucha für Mitte November ins Bundeskanzleramt zum Flüchtlingsgipfel eingeladen. Nicht, weil sie den Lucha für einen netten Kerl hält, sondern weil er gerade turnusmäßig Sprecher der Landesminister für Flüchtlingsintegration ist.
Zwölfstundentage
Früher, als er nur Landtagsabgeordneter war, schien das Leben gleichmäßiger als heute, keine Zwölfstundentage an sieben Tagen die Woche. Heute habe alles, was er tue, eine Konsequenz. Damals trat „Manne“, wie ihn fast alle Welt nennt, alle paar Monate im deutschen Fernsehen auf. Während Kommissarin Blum und ihr Assistent Perlmann im Bodensee-Tatort Verbrecher fingen, war Lucha für Momente nur, aber für Millionen Zuschauer als Streifenpolizist zu sehen. Gut, dass das Ende des Bodensee-Tatorts und der Aufstieg des Manfred Lucha nahezu zusammenfielen. Ein Minister, der im Fernsehen Mörder jagt, das wäre nicht mehr gegangen.
Wie er das heute macht, wenn er in einer Sitzgruppe im Landtag Besucher empfängt, während durch die meterhohen und unendlich breiten Fenster der blaue Himmel über Stuttgart leuchtet, sucht man vergeblich den Polterer. Der Diplomat und Taktiker sitzt in einem Ledersessel, aus dem Lautsprecher in der Wand wird die Debatte im Plenarsaal übertragen. Er trifft den Bundesverband der Rentenberater, dann den Verband der Pharmazeutischen Industrie und schließlich noch die Vertreter von LSBTTIQ – Schwulen, Lesben und Transgendergruppen. Ob bei Schwulen oder Pharmazeuten, immer sitzen Referenten und Abteilungsleiter aus seinem Ministerium mit blauen, roten, gelben Aktendeckeln dabei. Sind die Besucher gut vorbereitet, wird über Projekte gesprochen, sind sie schlecht präpariert, bricht Lucha höflich, aber bestimmt ab und bittet darum, mal ein Konzeptionspapier zu schreiben. „Also wissen‘s“, sagt er dann.
Vorher, auf dem Weg in den Landtag, lief Lucha so schnell, dass die Assistentin und der Pressesprecher kaum hinterherkamen. Der Minister stürmte gegen den Herbstwind ins Parlamentsgebäude. Einer müsse ja regieren, hat er gesagt.
Text: Christof Plate, Schwäbische Zeitung
Bild: Roland Rasemann